Vom neuen Gutenberg-Editor in WordPress bin ich begeistert. Mir gefällt das Konzept mit den Blöcken, ich kann damit besser arbeiten als mit dem klassischen Editor. Von der Nutzergemeinde wurde der Editor jedoch bisher sehr schlecht bewertet und zum Teil stark kritisiert. Das wirft für mich zwei Fragen auf:
- Warum wird ein Update, welches so viele Vorteile bringt und so viel Entwicklungspotenzial für die Zukunft besitzt, so abwertend behandelt?
- Gibt es noch andere Beispiele, wo eine Umgestaltung der Software die Nutzer erbost hat? Haben sich die Nutzer an die Änderungen gewöhnt oder ist das Produkt an dieser Stelle gescheitert?
Frage 1 lässt sich recht einfach beantworten: Viele Nutzer fühlen sich in ihrem gewohnten Arbeitsablauf gestört, denn der neue Editor erfordert Umstellung und etwas Einarbeitung. Hinzu kommt, dass der Editor nicht reibungslos mit vorhandenen Erweiterungen zusammenspielt und an einigen Stellen noch etwas unausgereift ist. Die Vorteile und das Potenzial des Editors werden aber durchaus wahrgenommen und geschätzt. Unter diesen Voraussetzungen halte ich es durchaus für möglich, dass die Anfangsschwierigkeiten bald überwunden werden und der Editor bald von einem Großteil der Nutzergemeinde akzeptiert wird.
Bracey, Kezz: "WordPress Gutenberg: Das Gute, das Schlechte und die Lösungen", unter: entwickler.de (abgerufen am 20.5.2020)
Zu Frage 2 habe ich ein wenig recherchiert. Tatsächlich ist die Problematik unter Software-Designern bekannt. Anwender sind oft Gewohnheitstiere, die keine Veränderungen lieben. Selbst wenn die neu gestaltete Benutzeroberfläche viel übersichtlicher ist, wollen sie zu der alten Oberfläche zurück, auf die sie sozusagen "geprägt" sind. In Foren und sozialen Netzwerken wird dann häufig Kritik hinterlassen, die auf dem ersten Blick oberflächlich oder unbegründet erscheinen kann. Um die Kritik zu verstehen, sollten sich die Entwickler aber mit den tiefer liegenden Emotionen der Nutzer auseinandersetzen (Eisbergmodell):
- Nutzer fühlen sich dumm, wenn sie nicht (mehr) in der Lage sind, eine Aufgabe mit der Software zu erledigen.
- Wenn Nutzer ihre Daten nicht an der gewohnten Stelle wiederfinden, haben sie ggf. Angst, dass ihnen die Daten verloren gegangen sind.
- Nutzer werden wütend, wenn sie ihre Arbeit nicht schnell erledigen können, weil sie erst einen Umweg gehen und eine neue Bedienung erlernen müssen.
- Nutzer fühlen sich bevormundet, wenn sie nicht selbst entscheiden können, ob und wann sie die Veränderung aktivieren möchten oder nicht.
Auf eine Modernisierung kann natürlich trotzdem nicht verzichtet werden, denn sonst bleiben neue Nutzer aus und die bisherigen Nutzer interessieren sich früher oder später vielleicht doch für das aufregende, neue Produkt des Konkurrenten 😉
Die notwendigen Veränderungen sollten aber in kleinen Schritten vorgenommen werden. Die Nutzer müssen von den Vorteilen der jeweiligen Veränderung überzeugt werden und die neuen Arbeitsschritte müssen einfach und verständlich erklärt werden (onboarding). Außerdem ist es wichtig, die Rückmeldungen der Nutzer zu sammeln und so weit wie möglich in den Änderungsprozess einzubeziehen.
Grozny, Maxim: "Baby duck syndrome in digital design", unter: uxdesign.cc (abgerufen am 20.5.2020)
Sedley, Aaron: "Change aversion: why users hate what you launched (and what to do about it)", unter: library.gv.com (abgerufen am 20.5.2020)
Dulenko, Vitaly: "Why redesigns don’t make users happy", unter: uxplanet.org (abgerufen am 20.5.2020)
Locke, Hannah: "Change Aversion: how to design experiences with minimal disruption", unter: uxdesign.cc (abgerufen am 20.5.2020)
Beispiele für Umgestaltungen, die die Nutzer regelmäßig in Aufruhr versetzt (haben):
Intercom hat den Prozess zur Umstellung seiner "Inbox"-Software interessanterweise dokumentiert. Das Unternehmen hat sorgfältige Beta-Tests mit verschiedenen Varianten der neu gestalteten Software durchgeführt. Es wurde u.a. ausgewertet, wie die Nutzergruppen auf eine veränderte Anordnung eines Menüs oder eine Veränderung des Farbschemas reagieren. Die übersichtlichere Anordnung des Menüs brachte den Nutzern einen klaren Vorteil, während gleichzeitig keine neuen Arbeitsschritte erlernt werden mussten. Dementsprechend reagierten die Nutzer positiv auf diese Veränderung.
Wenn der Änderungsprozess nicht optimal gelingt, bleibt immer noch der Trost, dass die Nutzer bald wieder zurückkommen werden. In der Regel gewöhnen sich Nutzer nach einiger Zeit an die veränderte Version eines Programms. Dass radikale Änderungen aber auch zum Scheitern des ganzen Produkts führen können, zeigt sich am Beispiel des Betriebssystems Windows. Der Versuch, die touch-optimierte Metro-Oberfläche neben der maus-optimierten Desktop-Oberfläche zu kultivieren - inklusive verwirrendem Hin- und Herwechsel zwischen beiden Welten - brachte so viele Nutzer auf die Palme, dass Microsoft zurückrudern und die Desktop-Oberfläche wieder in den Vordergrund stellen musste. Letztendlich ist auch das mobile, metro-basierte Betriebssystem Windows Phone gescheitert und wurde Ende 2019 eingestellt. Die Gründe sind vielfältig: eine zu steile Lernkurve, ein nicht zu Ende durchdachtes Interaktionskonzept, mangelnder Zuspruch durch App-Entwickler, zu starke Beliebtheit von Android und iOS ...
Ich gehe davon aus, dass Microsoft umfangreiche Nutzbarkeitsstudien und Beta-Tests zu Windows 8 durchgeführt hat. Die Ergebnisse scheinen trügerisch gewesen zu sein. Wir lernen daraus, dass wir alle Nutzer auf dem Weg zu einem neuen Design mitnehmen müssen. Vermeiden Sie es, Ihre Nutzergemeinde ganz plötzlich mit einer kompletten Designrevolution zu konfrontieren 😉